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Kirche? Von Fall zu Fall!
Menschen an wichtigen Lebensstationen begleiten
Aus Lernort Gemeinde 3/2004, Seite 41f
Über die situationsbedingte kirchliche Begleitung von Menschen ist in der Vergangenheit schon viel nachgedacht, geschrieben und diskutiert worden. Das Wissen über die „rite de passage“, die den wichtigen Umbruchsituationen und den damit einhergehenden Krisen Form, Gestalt, Sprache oder andere Ausdrucksmöglichkeiten geben, gehört zum seelsorgerlichen Grundbestand im gemeindlichen Alltag und den darüber hinausgehenden pastoralen Tätigkeiten.
Aber das Wissen darum ist das Eine. Eine konzeptionelle Einbeziehung und theologische Grundlegung für das Wesen von Kirche und Gemeinde das Andere.
Der so genannte Amtshandlungstourismus und der Wunsch für eine private Feier einen schönen Rahmen haben zu wollen, mag für viele das Haar in der Suppe sein, das dann oft dazu führt, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Deshalb meine These: „Kirche? Von Fall zu Fall!“
Kirche und das christlich geprägte Leben hat in den vergangenen Jahren einen zunehmenden Bedeutungsverlust erfahren. Viele setzten Kirche mit den sozialen Aufgaben in der Gesellschaft gleich. Im Zuge drastischer Sparmaßnahmen und Schließungen diakonischer Einrichtungen und dem Verkauf von Kirchen wird immer öfter die Frage laut: „Welchen Sinn hat Kirche überhaupt noch, wenn sie sich aus Kindergärten, Kinder-, Jugend-, Senioren- und Sozialeinrichtungen herauszieht?“ Neben der sozialen Aufgabe wird hier keine sinnvolle Kompetenz der Kirche wahrgenommen. Teilweise hat die Kirche in den „reichen Jahren“ auch zu dieser eindimensionalen Sichtweise beigetragen. Auf der anderen Seite steht die Wahrnehmung von Kirche bei den Menschen, die in Um-bruch-situationen ihres Lebens kirchliche Rituale in Anspruch nehmen möchten. Sie trauen diesen Ritualen eine Deutungskompetenz für ihr Leben zu. Auch dann, wenn sie längst nicht mehr Kirchenmitglieder sind. Trotzdem ist ihnen dieser Wunsch so wichtig, dass sie sich auf unangenehme Gespräche einlassen und sich fragen lassen, warum sie nicht mehr in der Kirche sind, dennoch aber den „kirchlichen Segen“ wünschen.
Die Kasualien – die „Fälle“ – sind die Schnittstelle von Außenwahrnehmung der Kirche und kirchlicher Selbsteinschätzung in konkreten Lebenssituationen von Menschen. Von Fall zu Fall kann sich etwas be-deutendes ereignen. Von Fall zu Fall können Rituale lebendig und für die Betroffenen einzigartig werden. Von Fall zu Fall kann Glaube zu Vergewisserung, Erfahrung zu eigener Wahrhaftigkeit werden. Kasualien sind eben keine Amts-handlungen. Es sind persönliche Momente. Den Weg zum Amt müssen die Betroffenen zwangsläufig machen. Den Weg zur Pastorin, zum Pastor oder in den Gottesdienst gehen sie freiwillig. Damit sind an diesen Kontakt auch ganz andere Erwartungen geknüpft. Die Erfahrungen eines Um-bruchs im Leben oder einer bewältigten Krise prägt einen Menschen meist für den weiteren Verlauf des Lebens. Strukturen und Mechanismen werden erlernt und beibehalten. Kirchliche Rituale scheinen zur Stabilisierung beitragen, Gefühlen und Gedanken Ausdrucksform verleihen zu können. Da eignet sich ein Mensch für einen wichtigen Moment des Lebens ein Stück kirchlicher Identität an.
Aber weiß die Kirche eigentlich um die Kraft ihrer Ausdrucksformen? Weiß sie um die Dynamik ihrer Rituale? Lässt sie sich in ihrem Alltag und im wöchentlichen Gemeinderhythmus von ihnen aus der Ruhe bringen? Kirche lebt von Fall zu Fall. Sie lebt da, wo Einzelfälle Raum finden. Wo andere Menschen sich erinnern und auf das eigene Leben hin befragen lassen. Wo Erfahrungen Worte finden und zur Sprache kommen. Wo Vergebung zugesprochen – gegeben und angenommen – wird. Kasualien sind die Höhe- und Tiefpunkte des Lebens Einzelner und des Lebens der Gemeinde. Daraufhin sind Menschen auch dann ansprechbar, wenn ihr Leben gerade „normal“ verläuft. Exemplarisch wird das in den Überlieferungen der Evangelien deutlich. Menschen in bedrohten Lebensumständen, werden von Jesus wahr-genommen. Er sieht sie. Er knüpft bei ihrem Glauben an. Er spricht ihnen Vergebung zu. Gleichzeitig nimmt er die Gelegenheit wahr, den dadurch verunsicherten Jüngern, das Erlebte zu erklären. Durch dieses Miterleben und die interpretierende Hilfe Jesu erfahren die Jünger eine Vertiefung der eigenen Lebenssituation, was manchmal auch einen Bruch mit ihren alten, traditionellen und religiösen Vorstellungen bedeutet.
In dieser gegenseitigen Bezugnahme von individueller Erfahrung und gemeinsam erlebter Vertiefung sehe ich die wesentliche Aufgabe christlich-kirchlichen Handelns und den unschätzbaren Wert der „Kasualien“. „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden!“ (Röm12,12) Wo Einzelne in einer Gemeinde Be-achtung finden, gewinnt die Normalität gemeindlichen Lebens an Tiefe und Vergewisserung. Dabei stärken sich die stabile Normalität und krisenhaft offene Lebenssituationen gegenseitig. Dafür muss man meines Erachtens gar nicht viel tun. Es geht mir nicht um großen Aktionismus, neue Konzepte oder gar neue Kirchenbilder! Es geht mir um liebevoll und gut gemachte Rituale, die gemeinsam getragen werden: Die Taufe im Hauptgottesdienst mit einer Tauferinnerung für die Gemeinde. Die Einbeziehung von Konfirmandinnen und Konfirmanden nicht erst zum großen Konfirmationsgottesdienst am Ende, sondern das einladende Gespräch auch für Eltern und Familien in Begleitung zum Unterricht. Die Einladung an Brautpaare und Familien zu einem der Trauung folgenden (Abendmahls)gottesdienst. Der liebevolle Hinweis an Trauernde, dass der Name des Verstorbenen der Gemeinde im nächsten Gottesdienst verlesen und die Fürbitte gehalten wird. Vielen mag das Selbstverständlich sein. Diese Selbstverständlichkeit möchte ich anderen verständlich machen und immer wieder neu ins Gespräch bringen. Das ist für mich Kirche! Von Fall zu Fall.
Michael Ostendorf